Nix fließt – alles stockt

Panta rhei – steht im WhatsApp Status einer guten Freundin. „Alles fließt“ bedeutet das wörtlich übersetzt. Der griechischer Philosoph Heraklit wollte damit zum Ausdruck bringen, dass sich alles ständig verändert. Eine schöne Vorstellung und ja, ich schau gern auf den dahinfließenden Rhein, auf die kommenden und gehenden Wasser am Meer oder auf den sprudelnden Gebirgsbach …. ich finde es schön, dass ich nicht mehr die bin, die ich einmal war.

Momentan allerdings, Stand Februar 2021 empfinde ich diesen Spruch als Hohn, wann immer er mir unter die Augen kommt. Momentan, wo sich ein Tag kaum vom anderen unterscheidet, wo es keine Highlights gibt. „Die Zeit plätschert so vor sich hin“ könnte man sagen. Aber das wäre beschönigend. Mir scheint, die Zeit steht still. Still wie Wasser in einer Pfütze, abgestanden, und sobald es wärmer wird, wird es vor sich hin modern. Still wie das Wasser, das knöcheltief auf meinem Balkon steht, zusammen mit ein paar letzten Schneeresten.

Moment mal!

Die Zeit als abgestandene Pfütze ist nicht im Fluss

Ich habe doch einen Ablauf im Balkonboden. Mit dem stimmt anscheinend etwas nicht. Der ist – optisch gesehen – frei. Kein Laub oder andere Pflanzenreste verstopfen ihn. Bleibt nur Eis im Inneren. *grübel grübel* Ja! Ich erinnere mich an die Tränken für die Kälber vor nicht ganz einem halben Jahrhundert. Der Winter meines Landwirtschafts-Praktikums war noch kälter als dieser im Jahr 2021 und vor allem länger kälter. Täglich mussten wir Anstrengungen unternehmen, damit die Kälber mit ihren großen schwarzen Augen und den staksigen Bewegungen etwas zutrinken bekamen. Laut muhten sie, wenn wir mit den Eimern voll heißem Wasser anrückten, mit dem wir die Schläuche auftauten. Anschließend stürzten sie sich gierig auf die Tränken.

Von der abgestandenen Pfütze zum verstopften Ablauf

Also stelle ich jetzt schnell meinen Wasserkocher an, schütte die blubbernde heiße Flüssigkeit in den Ablauf und kann beobachten, wie langsam Bewegung in das Wasser kommt, unmerklich zunächst, bis es schließlich einen kleinen unscheinbaren Strudel bildet und in der Tiefe verschwindet. Es steht also doch nicht still und ich bin zufrieden. Denn Wasser knöcheltief auf einem Balkon mit Fliesenbelag, das wäre dem auf Dauer nicht gut bekommen.

Die Wärme bringt das Eis zum Schmelzen und das Wasser zum Ablauf

Aber: War das schon ein Highlight? Nein. Irgendwie nicht.

Noch einmal lasse ich den Tag Revue passieren. Und da fällt mir ein: Da war was! Heute ging ich ausnahmsweise mal wieder Richtung Bahnhof und kam an der Filiale der Bäckereikette vorbei, bei der ich nie einkaufe. Und da sah ich die beiden jungen Männer wieder, die dort arbeiten. Einer bediente eine Kundin, der andere reparierte die Uhr an der Wand. Beide bemerkten mich und beide lächelten mich an, so wie sie es immer tun, wenn ich zum Bahnhof strebe und sie mich bemerken. Und ich konnte zurück lächeln. Das war schön. Ich glaube, das ist es, was mir fehlt – weil ich im Homeoffice arbeite, gehe ich zurzeit nicht mehr Richtung Bahnhof.

Krefeld Hauptbahnhof

Wenn ich mich bewege, sieht die Welt anders aus

Vielleicht sollte ich es öfter tun. Einfach ohne zum Bahnhof zu müssen. Einfach am Bäckereigeschäft vorbei eine Runde um den Block gehen, ein Lächeln abholen, ein Lächeln schenken und schon sieht der Tag ganz anders aus.

Aber ich bin mir nicht sicher, ob meine Kraft dazu reicht. Sie ist schon ziemlich abgestanden. Ich hoffe, sie fängt nicht an zu modern wenn es wärmer wird.

Hoffentlich reicht meine Kraft für die Runde um den Block

Hochwasser in Uerdingen

Eigentlich wollte ich nur eben mit dem Fahrrad zum Markt in Uerdingen und anschließend eine Runde über Stratum und Linn nach Hause drehen. Dann habe ich mich doch mit einer Hochwasserschau begnügt.

Blick aufs Vereinshaus des Uerdinger Ruderclubs Foto: © Susanne Böhling
Wasser weit und breit – so präsentiert sich heute der Rhein. Das scheinbar gebogene Geländer ist eigentlich gerade und der Rhein macht einen Knick. Foto: © Susanne Böhling

Ich denke an meinen ersten Rudergang bei Hochwasser. Wir fuhren ein Stück Rheinaufwärts durch die Weiden und Pappeln über die Wiesen, die hinauf zum Deich führen und über die ich sonst laufe. Dort war das Wasser ganz ruhig. Später stromab in die Roos, eine Hochwasserausgleichsfläche nördlich des Bayerwerks Richtung Rheinhausen. Zurück mussten wir auf die rechte Rheinseite, weil vor der Kaimauer in Uerdingen die Strömung zu stark war. Wir wären nicht dagegen angekommen. Besonders bei der zweiten Querung, zurück zum Ruderhaus, war mir die starke Strömung unheimlich. Ich sah uns schon im Wasser – ohne Chance auf Rettung. Aber die vier Kerle im Boot legten sich mächtig ins Zeug und so verloren wir trotz der Strömung nicht einmal an Höhe. Trotzdem war ich sehr dankbar, als ich kurz darauf eine Rettungsweste geschenkt bekam. Die hing seitdem immer in meinem Spind im Ruderhaus.

Was allerdings meine Fahrradpläne anbelangt: Es war jetzt entweder zu kalt oder ich nicht warm genug angezogen. Jedenfalls stand da die Straßenbahn der Linie 44 an ihrer Endhaltestelle, an der ich ja vorbei musste. Hätte müssen. Denn ich habe dann kurzerhand die Abkürzung genommen.

Falls Ihr einige andere Rudererlebnisse nachlesen wollt. Hier sind die Links:
Rudern und Baden
Aufbruch zum Rheinmarathon
Der Rheinmarathon – ein besonderes Ereignis
Der Tag nach dem Rheinmarathon

Hilfe! Technik!

Eine nicht ganz ernst gemeinte frage: Liegt beim technischen Support die betonung auf der technik oder auf der Hilfe? und geht die auch unernst?

Support, das heißt so viel wie Hilfe, Unterstützung. Und ich, ich arbeite also im technischen Support. Das kommt nicht von ungefähr. Auch wenn einige meiner Vorgesetzten von meiner Eignung nicht von Anfang an überzeugt waren. Im Gegensatz zu einigen meiner Freundinnen. Die hielten mich – nach Erlebnissen der besonderen Art – sogar für ein technisches Genie. Naja. Denn es ist schon lange Zeit her, dass ich Abiturientin, die nicht mal ihr Fahrrad flicken kann, Tränkebecken oder Förderbänder repariert habe. Aber ich mache technischen Support für eine Software und zugegeben, PCs habe ich noch nie auseinander genommen um Festplatten zu wechseln und wenn mein Rechner neu eingerichtet werden muss, lasse ich einen Profi ran.

CD-Player oder Lüftungsschlitz, das ist hier die Frage

Bei der ersten Freundin kam das Aha-Erlebnis bei einer Reise an die See. Ich hatte für die Fahrt CDs eingepackt, die ich ihr schon lange Mal vorspielen wollte. Kurz nach Abfahrt schob ich eine Scheibe in den Player, der im Autoradio integriert war. Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. „Ach, sowas habe ich?“, kommentierte sie, „und ich dachte immer, das sei ein Lüftungsschlitz.“ Also erst habe ich – und dann wir beide – gelacht.

Genie leistet Hilfe beim Befestigen des Navis

Bei der Zweiten beobachtete ich, wie sie ihr Navi zwischen Mittelkonsole und Schalthebel platzieren wollte. Aber schon bei dem Versuch ist es ihr zweimal in den Fußraum unter die Pedale gepurzelt. „G.“, sagte ich, „hast Du nicht eine Halterung für das Ding, so eine mit Saugnapf, um es an der Scheibe festzumachen?“ „Doch“, sagte sie und wies mir einen Stoffbeutel auf der Rücksitzbank, „aber das Scheißding fällt immer runter“, murmelte sie leise. Sie benutzte solche Fäkalausdrücke nicht gern. Das Teil muss sie also wirklich geärgert haben. Ich zeigte ihr dann, dass man nur den Rand des Saugnapfes drehen musste, damit er sicher an der Scheibe festhielt. Sie machte große Augen und flüsterte: „Du bist ein … (siehe oben).“

Weil sie E-Mails auch auf dem Tablet lesen will, braucht sie Hilfe

Vor kurzem fragte mich eine andere Freundin nach Unterstützung. Sie wollte ihr E-Mail-Postfach zusätzlich auf ihrem Tablet eingerichtet haben, was auch unter Zuhilfenahme des Sohnes nicht gelang: „Kannst Du mal schauen? Er sagt, wenn ich das Passwort nicht hätte, ginge das nicht.“ Gern wollte ich helfen, denn ich glaubte, dass es auch in diesem Fall einen „Passwort vergessen“-Button gäbe. Aber tatsächlich. Da war ich also mit meinem Support auch schon am Ende. Wobei ich die Freundin als sehr ordentlich kannte und mir nicht vorstellen konnte, dass sie das Sesam-Öffne-Dich fürs Postfach nicht notiert und sauber abgeheftet habe. „Schau doch mal nach“, ermunterte sie und nannte ihr das Konto, unter dem zu suchen sei. „Ich habe das nicht“, sagte sie, holte dennoch mit energischem Schwung einen Ordner aus dem Regal, schlug ihn an einer Stelle auf, schloss ihn sofort wieder, stellte ihn an seinen Platz: „Da ist nichts!“ Dabei versprühte sie, die sonst so beherrscht und zurückhaltend ist, eine Energie! „Und Du hast jetzt gesucht?“ fragte ich. „Ja“, gab sie – fast – trotzig zurück. „Also bei mir geht Suchen immer anders“, beharrte ich. „Ich muss da immer blättern. Bitte gib mir den Ordner doch nochmal.“ Widerwillig gab sie nach, schlug die Abteilung auf, ich begann zu blättern, denn obenauf lagen nur neue Nachrichten, „und das Passwort muss unten sein, das hast Du ganz am Anfang festgelegt“. Am Ende der Abteilung, tatsächlich, fand sich etwas. Zwei Versuche, das Passworträtsel war geknackt, die Freundin war zufrieden und ich erst! Manchmal ist technischer Support eben auch: beim Suchen helfen.

Und manchmal brauche auch ich technischen Support. Nicht beim Suchen, dazu ist mein Chaos viel zu groß. Aber am Sonntag. Da war ich mit einer weiteren Freundin wandern, rund um die Halde Rheinpreußen und der Ausblick auf den See, den wir umrundeten, der war wirklich wunderschön, ein Foto wert. Aber dann bemerkte ich im Display meines Smartphones groß und vor allem breit, den Zaun, der den Weg begrenzte und immer im Bild war, wenn ich das diesseitige Ufer mit draufbekommen wollte. Ich reckte mich, um drüber hinweg zu fotografieren. Und reckte mich noch ein bisschen. Auf die Zehenspitzen … „Was machst Du da eigentlich?“ wunderte sich die Freundin. Ich erklärte ihr das mit dem Zaun und sie sagte: „Aber dann geh‘ doch einfach weiter nach vorne!“ – „Das ist ein guter Vorschlag“, stimmte ich sofort zu, zumal der Zaun keinen Meter hoch war. Jetzt konnte ich ihn bequem übersehen. Und wir beide haben herzlich gelacht.

Ja, und weil ich genau weiß, dass man manchmal die naheliegendsten Lösungen nicht sofort und schon gar nicht selbst erkennt, und dass man sich dabei ganz schön blöd vorkommt und obendrein super peinlich ist, bin ich – davon bin ich immer fester überzeugt – für meine Aufgabe im technischen Support doch ganz gut geeignet. Denn darüber kann ich dann auch gemeinsam mit meinen Kunden lachen und dann geht das mit der Hilfe auch leichter.

Wenn die bösen Buben nicht locken …

… bleib’ ich zuhaus’ und stricke socken

Okay. Jetzt kommt das nächste Outing. Ich stricke. Handarbeiten mochte ich eigentlich nicht so gern. Von meiner Mutter bekam ich nämlich immer den Satz zu hören: „Wenn die bösen Buben locken, bleib zuhaus‘ und stopfe Socken – was sich mühelos umwandeln ließ zu „… stricke Socken.“ Ich wollte lieber was erleben. Und nicht zuhause rumhocken, um mir womöglich von meiner Oma „gute Ratschläge“ geben zu lassen. Die hatte nämlich das Monopol aufs Socken stricken und ihre Monopole verteidigte sie immer mit Klauen und Zähnen. Sprich: mit Spott und Häme. Den bekam ich ab, wenn ich etwas nicht auf Anhieb schaffte. Heute, wo man zuhause bleiben muss und soll, bin ich natürlich unglaublich froh um dieses Hobby.

Geduld mit den Kunden

Angefangen habe ich es vor zirka drei Jahren, seit ich am Telefon arbeite, im technischen Support. Grob gesagt: Ich erkläre den Kunden, wie sie eine Software bedienen müssen. „Jetzt klicken Sie bitte dahin.“ – Kann ich nicht. Gibt es nicht.“ – „Schauen Sie bitte mal oben am Rand. Was sehen Sie da?“ – „Das und das und das.“ – „Also, und eine Zeile drüber?“ – „Ja, tatsächlich“ … „Ach wunderbar, jetzt funktioniert es wieder, vielen Dank.“

So laufen diese Gespräche meist. Aber das, was ich da mit den drei Punkten angedeutet habe, das kann sich ziehen. Und auch bis „Ja, tatsächlich“, dauert es bisweilen. Da heißt es Geduld bewahren, ruhig bleiben, wo ich den Kunden bisweilen am liebsten mit der Nase hin stupsen würde! Eine echte Herausforderung, denn erschwerend kommt hinzu, dass wir uns nicht bewegen können. Wir sind ja mit unserem Headset am Arbeitsplatz festgekettet, die Leine ist sehr kurz und ich habe notorischen Bewegungsdrang.

Irgendwann sah ich eine Kollegin mit einem Häkelzeug …

… und machte mich ans Stricken. Dann können sich auch meine Hände bewegen und nicht nur mein Mund. Natürlich nur einfache Sachen, bei denen man nicht denken muss, sonst mache ich zu viele Fehler, meine Aufmerksamkeit ist ja bei den Kunden. Anfangs war ich sogar bei französischem Patent überfordert, aber man bekommt Routine. Inzwischen kann ich sogar Socken stricken bei der Arbeit. Anfangs habe ich Ferse und Spitze in der Freizeit gestrickt, inzwischen geht das so von der Hand. Omas Aversionen sind mir egal, für Socken finde ich immer dankbare Abnehmer. Und die Geduld mit meinen Kunden wächst wirklich stetig. Schließlich mache ich auch für jedes Paar Socken mindestens 16000 Mal die gleiche Bewegung und bin mir sicher, dass ich irgendwann fertig werde.

Die Freude beim Aufribbeln

Aber nicht nur die Geduld mit meinen Kunden wächst. Auch mit mir. Dabei neige ich eigentlich zu cholerischen Anfällen. Zumindest verschiebe ich die Vollendung von Projekten, die nicht sofort klappen, gern auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, den man in keinem Heiligen-Kalender findet. Inzwischen ribble ich sogar. Ohne auf die Idee zu kommen, dass das verschwendete Zeit sei. Daran ist meine Teamleiterin schuld. Sie hatte nichts gegen meine Nebentätigkeit, weil sie in der Zeit, als noch selbst telefonierte, auch gestrickt hat. Jetzt kommt sie immer mal wieder mit neuen, wunderschönen Pullovern in die Arbeit, die sie natürlich in der Freizeit fertigen muss.

Ich habe inzwischen auch mehr Geduld mit mir

Von ihr stammte der Hinweis auf einen Blog, auf dem die Strickerin dafür plädiert, mit Freude aufzuribbeln. Davon wollte ich anfangs nichts hören. Ich war davon überzeugt, dass ich alle Projekte auf Anhieb zu meiner vollsten Zufriedenheit durchziehe. Tja, war dann nicht so. Und ist noch immer nicht so. Aber sogar aus der ersten Wolle, die ich mir billig im Internet gekauft hatte, weil ich ja nicht wusste, ob ich überhaupt Spaß dran finde, habe ich inzwischen einen ganz passablem Schal gestrickt. Zweimal habe ich geribbelt und der Flauschanteil der Wolle ging allmählich gegen Null. Bis zum zweiten und dritten Anlauf habe ich mir auch Zeit gelassen, zwischendurch etwas anderes gestrickt und die dort gesammelten Erfahrungen mit eingebracht.

Wichtige Erfahrungen sammelte ich beim Stricken

Und diese Erfahrung, die ist wichtig:
dass ich nicht sofort verzagen muss, etwas nicht auf Anhieb klappt – denn eigentlich bin ich verzagt, auch wenn sich das in wenn einen cholerischen Anfall äußert.
dass auch keiner deswegen lästert.
Und diese Erfahrung, die ist gut. Die übertrage ich auch auf andere Projekte. Putzen beispielsweise. Steuererklärung. Ich bin mir sicher, dass ich das rechtzeitig hinbekomme ohne in Hektik zu verfallen. Ehrlich, das ist toll. Und ich weiß nicht. Ob ich diese Erfahrung mit den bösen Buben auch hätte machen können. Abgesehen davon, dass sie momentan auch nicht draußen unterwegs sind.

Wie kann man nur!

Ja, der Aufschrei „Wie kann man nur!“ ist lange Zeit auch aus meinem Mund gekommen. Wie aus so vielen anderen. Und auch heute kann ich mich nicht immer beherrschen.

Es gibt immer einen Grund auf andere herabzusehen

Zunächst mal: „Wie kann man nur!“ ist ein Aufschrei. Das „Wie“ ist Tarnung. So tun als ob es eine Frage wäre. Ist es aber nicht. Keiner von uns „Wie kann man nur“-Schreiern hat jemals wirklich gefragt. Eigentlich wollen wir damit sagen, dass der, dem dieser Ausruf gilt, selten doof ist. Im Gegensatz zu mir, die ich schlau, vernünftig, einsichtig, diszipliniert und in der Lage bin, mich anständig zu benehmen.

Peinlich und zum Lachen

Aber dann ist mir im vergangenen Jahr etwas sehr Peinliches passiert: Ich bin mit dem Fuß umgeknickt und hatte eine Bänderdehnung im Sprunggelenk. In wenigen Sekunden schwoll der Knöchel an und es hat höllisch weh getan. Das ist ja jetzt eigentlich nicht peinlich. Sondern bedauernswert. Aber: Wie mir das passiert ist! „Wie kann man nur! So blöd sein!“

Dann habe ich einer Freundin erzählt, wie es passiert ist. Eigentlich, um sie aufzuheitern, weil es ist ja schon auch lustig, wenn man so lange am Klo mit dem Handy Sudoku spielt, bis einem die Beine derart eingeschlafen sind, dass sie beim Aufstehen komplett versagen und ich von Glück reden kann, dass mein Bad so groß ist, dass ich mich nicht schlimmer verletzt habe. Vor allem, weil es da niemanden gibt, vor dem ich mich aufs Örtchen zurückziehen müsste, um meine Ruhe zu haben. „Warum spielst Du nicht auf dem Sofa?“ wäre eine denkbare Reaktion gewesen. Und dann? Sie hat nicht gelacht. Sie hat nur die Schultern gezuckt und gesagt: „Ist mir auch schon passiert.“ Da war ich baff. Ich begann zu ahnen, dass solche Missgeschicke nicht nur mir passieren.

Die Badezimmerdecke von unten – als ich am Boden lag und Gott-Lob nicht ganz zerstört war

Wer seine Fehler zugibt provoziert Verachtung

Inzwischen bin ich sicher: Jeder hat schon mal etwas gemacht, das den Aufschrei „Wie kann man nur!“ provoziert, nur outet man sich selten. Weil man „Wie kann man nur“ nicht hören will. Wenn Du noch nie zu lange Sudoku gespielt hast auf dem Klo, dann hast Du irgendetwas anderes gemacht, das peinlich ist. In den falschen Klamotten ins Theater gegangen, den Ketchup auf Revers der Jacke gekleckert vor dem Business-Essen mit wichtigen Kunden, die Espressokanne ohne Wasser auf die Herdplatte gestellt – meine letzte Heldentat – jetzt ist sie kaputt. Das Portemonnaie beim Tanken aufs Autodach gelegt und dann losgefahren ohne es einzustecken – das war ich nicht, ich habe es mal im Zug vergessen.

Nur scheinbar unkaputtbar. Ich kriege alles hin

Es gibt mehr als einen Blickwinkel

Oder Du hast eine Ansicht, von der Du felsenfest überzeugt bist: Der eine brüllt „Wie kann man nur“ wenn ein anderer Leder trägt: „Die armen Tiere!“ Der andere brüllt „Wie kann man nur!“ wenn man statt Leder Plastik trägt, denn wie bitte, wird das schlussendlich entsorgt? Wieder in Malaysia? „Wie kann man nur!“ … Fleisch/Milch zu sich nehmen – sagen die Veganer. Anhänger der Ökobewegung denken eher in Kreisläufen und haben die Menge und die Produktionsbedingungen im Auge. Sie sagen: „Wie kann man nur“, wenn jemand darauf verzichtet. Und so hat man ständig etwas, worüber man mit „Wie kann man nur!“ verächtlich die Augen verdrehen kann.

Und es gibt Gründe, die man sich selbst nicht eingesteht

Ich habe in meinem Bekanntenkreis Menschen, die Corona-Regeln in Frage stellen und solche, die sich tierisch aufregen über die, die sie in Frage stellen. Jeder ruft dem anderen entgegen „Wie kann man nur!“ Und will damit sagen, dass der andere selten dämlich ist. Aber er fragt nicht: „Wieso? – Wieso vertrittst Du diese Meinung?“ Da ich alle diese Menschen gern mag und weiß, dass sie keine Monster sind (auch wenn sie sich auf Facebook schon mal aggressiv äußern oder einen mit ihrer Traurigkeit bis in die Tiefen des Marianengraben (11035 Meter) ziehen, habe ich mal gefragt. Und dann kamen Argumente. Die ich nicht nachvollziehen wollte. Oder konnte. Und die auch keinen Ausweg bieten. Was ich bei diesen Gelegenheiten aber gespürt habe: Alle haben Angst! Fürchterliche Angst! Und das ist verständlich. Und sie fühlen sich allein gelassen. Und ohnmächtig.

Eine Weisheit aus meinem Poesiealbum von meinem lieben Onkel Erwin

Deswegen sind sie aggressiv. Oder traurig. So traurig, dass in ihrem Leben keine Sonne mehr scheint. Beides macht das Zusammensein mit ihnen nicht gerade erquicklich. Womöglich werden sie isoliert bleiben, wenn die Krise vorbei ist.

Und davor habe ich Angst. Fürchterliche Angst. (Nicht auszudenken, wenn sie sich bei mir zufällig begegnen). Aber ich kann nicht brüllen „Wie kann man nur“, weil ich zufällig weiß, wie schnell das geht. Und selbst nicht davor gefeit bin. Ich sage „Wie kann man nur!“ bei unerzogenen Hunden und unerzogenen Kindern. Da bin ich nämlich der Ansicht, ich hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen. Aber bitte frag nicht bei meinen Kindern nach, wie sie über ihre Erziehung denken.

Immerhin hatte ich mit der Bänderdehnung sehr viel Zeit Sodoku zu spielen. Auf dem Sofa.

Der Schnee von heute

Manchmal ist allein sein gar nicht das Schlimmste. Sonntag Morgen zum Beispiel. Da war ich mir schon kompliziert genug

Irgendwann, als ich beschloss aufzustehen, sah ich, dass von dem Schnee, der Samstag am späten Abend gefallen war, immer noch etwas zu sehen war! Das hat Seltenheitswert am Niederrhein! Also … irgendwas muss ich damit doch anfangen … vielleicht sollte ich mit dem Zug nach Kleve fahren, dort auf den weiten Flächen müsste seine bezaubernde Wirkung um ein Vielfaches höher sein als auf dem Dach, auf das ich von meinem Fenster aus schaue. Rapp zapp, „9:36 Uhr“ sagt die App, würde die nächste Bahn fahren.

Was jetzt? Ja, nein, vielleicht?

Ich begann mir Brot zu schmieren und Tee zu kochen für den Thermobecher und suchte die passende Kleidung aus, während Gedanken durch meinen Kopf schossen. Zweifel, wie „Ob sich das lohnt?“ oder „Ob ich dann noch rechtzeitig zur Kirche komme? Oder vielleicht zur Abendmesse gehen soll?“ wechselten sich ab mit Euphorie: „Wie gut, dass ich so nahe am Bahnhof wohne“, und „mit dem Zug bin ich jetzt viel lieber unterwegs als mit dem Auto, da stört der Schnee auf den Straßen weniger.“ Ich weiß nicht, wie oft ich meinen Entschluss änderte. Mag sein, dass die Frequenz in „Hz – Hertz – Schwingung pro Sekunde“ messbar gewesen wäre. Und gut, dass es nur 40 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges waren. – Ich auf Wechselstromfrequenz? Mit der Energie könnte man ein Atomkraftwerk einsparen.

Das Hin und Her der Entscheidungen: Wechselstrom oder doch schon Drehstrom?

Wenn ich mir jetzt vorstelle, da wäre ein Kerl gewesen! Dass er sich mit mir auf dieser Frequenz hätte einschwingen können, das kann – und das will – ich lieber nicht erwarten. Stell dir vor, diese Sinuskurven laufen nicht synchron? Schrecklich!

Kurzzeitig (als ich nach meiner Rückkehr die Situation mit Bewusstsein durchleuchtete) konnte ich mir vorstellen, dass er mich auf den Schoß nimmt, mir übers Köpfchen streichelt um mich zu beruhigen. Aber dann hätte ich womöglich den Zug verpasst – und das hätte ich ihm nie verziehen, denn dass mit jeder Minute der Schnee schmolz und das Grau das Weiß aus der Landschaft verdrängen würde, war ja wohl klar.

Oder er will mitkommen. Dann hätte ich es womöglich nicht geschafft, genügend Butterbrote für zwei zu schmieren und für seinen Kaffee hätte mir der Thermobecher gefehlt. Oder er will mitkommen und ist nicht spontan genug. Vielleicht hätte er mich einfach in Ruhe machen lassen sollen und wäre bei seinem Plan für den Tag geblieben. Aber dann hätte ich womöglich eine dritte Alternative gehabt. Das wäre ja dann schon Drehstrom gewesen und bestimmt hätte es mir dann die Sicherung rausgehauen.

Nachmittags ohne Schnee, aber mit Begleitung

So sitze ich ganz entspannt an meinem Tisch, lese Zeitung und mache mir meine Gedanken. Und weil ich so früh zurück war von meiner Zugfahrt, kann ich sogar noch mit einer Freundin zu einer Wanderung aufbrechen. Es war nämlich wirklich so viel weniger Schnee als erwartet, dass ich die Fahrt schon in Nieukerk (ein Drittel des Weges nach Kleve) abgebrochen habe. Da brauchte ich nur zehn Minuten auf den Zug in Gegenrichtung zu warten, der mich wieder nach Hause gebracht hat. Konnte ich auch ganz allein entscheiden, keine Diskussion! In diesen zehn Minuten – aber auch schon auf den wenigen Metern zum Bahnhof – wurde mir klar, dass sich die frische Luft auf jeden Fall lohnt. Da waren meine Nase und meine Lungen sofort einer Meinung und von der sind sie nicht mehr abgewichen.

Bei der Wanderung am Nachmittag haben wir sogar ein bisschen Sonne

Ganz entspannt habe ich den Weg mit einer Freundin gemacht. Sie hatte von dem ewigen Hin- und Her am Morgen nichts mitbekommen

Ommm – auf türkisch

Nur nicht aufregen. Auch in scheinbar aussichtslosen Situationen gibt es Grund zur entspannung. bei mir übernehmen das die nachbarn.

Zugegeben: Ich war aufgeregt! Seit 9:30 Uhr saß ich auf meinem Koffer. Oder besser: Auf meinen Koffern! Es war bei weitem nicht nur einer! Ich sollte für mindestens vier Wochen in Reha … Dort sollte mein gebrochenes Bein wieder fit werden. Das durfte ich nicht belasten, musste mich bei jedem Schritt auf zwei „Unterarmgehilfen“ stützen, konnte also nichts selbst tragen. Wie sollte mein Gepäck in den Wagen? Vier Stockwerke ohne Aufzug und meine Wohnung liegt mitten in der Fußgängerzone. Ein unlösbares Problem. Furchtbar.

Hilfsbereitschaft aus der ersten Etage

Den Nachbarn aus der ersten Etage, ein Familienvater mit türkischem Hintergrund, rief ich um 9:50 Uhr an und bat ihn, mir das Gepäck schon mal herunterzutragen. Er hatte mir schon zu Beginn meiner Behinderung seine Hilfe angeboten und mir seine Karte gegeben. Jetzt war es 10 Uhr, die Koffer standen ordentlich aufgereiht unter den Briefkästen im Hauseingang, und ich – auf einem Bein – vor der Tür. Es war jetzt 10:10 Uhr. Noch immer kein Anruf vom Fahrer, der sollte sich doch 20 Minuten vor Ankunft bei mir melden. Seit 10 Uhr darf man nicht mehr in die Fußgängerzone fahren.

Yoga ist diesmal keine Lösung

Es würde schwierig werden. Ich war also immer noch aufgeregt. Oder sogar etwas aufgeregter. Die Atemzüge (habe ich überhaupt geatmet) wurden kürzer, die Sauerstoffzufuhr für mein Gehirn (Gehirn, was ist das?) schlechter … „Und jetzt machen wir alle Ommm“ hätte mein Yogalehrer gesagt. Aber er war nicht da und mir selbst kam diese Empfehlung einfach nicht in den Sinn, aufgeregt wie ich war und mit meinen Gedanken um den Fahrer und um das Gepäck … „ich habe doch hoffentlich nichts vergessen?“

Rettung aus der Änderungsschneiderei

Da ging die Tür der Änderungsschneiderei auf. Die Nachbarin aus der ersten Etage, die hier den Leuten die Hosen kürzer und die Röcke weiter macht, und deren Ehemann mir die Koffer geschleppt hatte, stellte mir augenzwinkernd einen Stuhl vor die Tür. Mit einem dankbaren Blick ließ ich mich darauf plumpsen und holte das erste Mal wieder Luft. Die Nachbarin verschwand in ihrer Änderungsschneiderei.

Kaffee wirkt wunder

Kurz darauf ging die Tür ein zweites Mal auf, sie kam heraus und drückte mir eine frische Tasse Kaffee in die Hand. Der Kaffee duftete, gierig und tief sog ich den Dampf in meine Lungen. Mein Atem beruhigte sich, ich nahm einen kleinen Schluck und lächelte sie an. Mit jedem weiteren Schluck beruhigte ich mich etwas mehr und irgendwann fing mein gesundes Bein an zu baumeln, ein sicheres Zeichen für komplette Entspannung. Der Transportdienst war eine dreiviertel Stunde zu spät, er hatte mich nicht 20 Minuten vor seiner Ankunft angerufen. Es hatte einen Stau gegeben, das hätte ich mir ja denken können.

Ich kann mir nicht immer selbst helfen

Und jedem Menschen, dem „Ommm“ in solchen Situationen nicht einfällt, was umso wahrscheinlicher ist, je größer die Aufregung, wünsche ich freundliche Nachbarn wie die meinen.

Heiliger im Hauptbahnhof

Krefeld Hauptbahnhof
Auch hier kann man sich vom Märtyrer St. Stephanus inspirieren lassen: Hauptbahnhof Krefeld

Auch wenn der Tag des Heiligen Stephanus bereits am 26. Dezember gefeiert wurde: Es gibt viele Gelegenheiten, sich von ihm inspirieren zu lassen. Es lohnt sich. Auch im Krefelder Hauptbahnhof und an allen Tagen des Jahres.

Wie großzügig bin ich? Wie nachtragend? Und was macht das mit mir?

Einmal habe ich es schon geschafft. Ein einziges Mal. Wobei die Situation auch nicht ganz vergleichbar war. Also gar nicht vergleichbar. Eher lächerlich im Vergleich zu dem, was Stephanus geleistet hat. Er ist der erste Märtyrer in der Nachfolge Christi, der noch bei seiner Steinigung seinen Mördern verziehen hat: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ waren seine letzten Worte.

Ein belangloses Gespräch unter Kolleginnen – über Heilige

Bemerkenswert an Rande vielleicht, dass es eine muslimische Kollegin und Freundin war, die mich kurz zuvor an ihn denken ließ: „Wir sind manchmal so nachtragend“, sagte sie. „Dabei ist es lächerlich, worüber wir uns aufregen. Wenn wir uns erinnern, was unsere Propheten und Heiligen alles ausgehalten haben.“

Anstoß: Hilfssheriff im Krefeld Hauptbahnhof

Ein paar Tage später fuhr ich mit meinem Rädchen rüber zum Bahnhof, ich wollte den Zug nach Uerdingen nehmen, wo ich ein paar Besorgungen zu machen hatte. Ich stieg auch im Bahnhofsgebäude nicht ab, denn ich liebe es, über den glatten Steinboden zu fahren. Ein Schwall von Reisenden bremste mich, Menschen die aus einem Zug die Treppen herunter zum Vorplatz strömten. Ich hielt an, balancierte auf der Stelle stehend, um sie nicht zu gefährden. Eine entgegenkommende Frau sah das anders: „Sie wissen ganz genau, dass das verboten ist“, wetterte sie. „Okay“, seufzte ich innerlich, „die Deutschen sind ein Volk von Hilfssheriffs“. Innerlich hielt ich weiterhin die Balance und ließ sie unkommentiert ziehen. Als ich endlich auf den Anzeiger am Bahnsteig schauen konnte, sah ich, dass mein Zug ausfallen würde.

Blick auf die Anzeigetafeln
Mein Zug würde ausfallen – jetzt schnell!

Also schnell Kehrt machen und zur Straßenbahn, natürlich radelnd, schließlich hatte ich es jetzt eilig. In der Tür des Bahnhofs sah ich wieder die Frau, die so wenig Verständnis gezeigt hatte für meinen Fahrspaß.

Die Ausgangstür
Und da versperrt sie mir den Weg, die unfreundliche Frau.

Ich stürze – war der Hilfssheriff vielleicht eine Hexe?

Ich entschied mich für eine andere Tür. Dafür musste ich abbiegen, legte mich in die Kurve und – lag da. War auf dem wunderbar glatten Steinboden ausgeglitten. Seltsamerweise hatte auch die Frau ihre Richtung gewechselt, sie ging an mir vorüber, und höhnisch schallte es durch den ganzen Bahnhof: „Ja, das freut mich ja jetzt richtig, denn das darf man ja nicht.“ Also da hätte ich jetzt doch gern etwas entgegnet, denn das ging eindeutig über die Kompetenzen eines Hilfssheriffs hinaus. Ich ordnete sie schon in die Kategorie Hexe ein.

Plötzlich und unerwartet – die Worte des Heiligen durchzucken mein Hirn

Aber mir fiel im besten Willen kein Konter ein. Das Einzige, was mein Hirn durchzuckte war: „Herr, rechne ihr diese Sünde nicht an!“ denn jemandem eine Verletzung zu gönnen, ja, das halte ich für eine Sünde.

Ausgerutscht in der Kurve

Es gibt sehr viele hilfsbereite Menschen

Im gleichen Augenblick war ein junges Paar an meiner Seite, sie fragten, ob ich mich verletzt hätte und ob sie mir helfen könnten. Also das naheliegendste. Dann schüttelten auch sie die Köpfe über die Bemerkung der Frau. Ich berappelte mich derweil, fühlte, dass noch alles dran war und bedankte mich. Ich erreichte sogar noch die Straßenbahn und bekam einen Sitzplatz direkt neben dem Abstellplatz für mein Rädchen.

Die wunderbare Wirkung guter Gedanken

Schnell komme ich runter

Mein Puls beruhigte sich allmählich. Dann bemerkte ich den Frieden in meinem Herzen. Seltsamerweise hegte ich keinen Groll mehr gegen die Frau. Wo es mir doch sonst immer fürchterlich stinkt, wenn mir keine effektvolle Antwort einfällt, auf so eine Unverschämtheit, und ich dann schon mal wochenlang darüber nachdenke, was ich ihr hätte nachrufen können. Das nagt dann bisweilen wochenlang an mir, die Gedanken kreisen um die vermeintliche Schmach und ich habe nicht eher Ruhe bis mir ein Konter einfällt – für den es dann Wochen zu spät ist. Diesmal blieb ich friedlich, freute mich, dass ich mich nicht verletzt hatte und war dankbar: für die Hilfsbereitschaft des jungen Paares, für das Beispiel des Heiligen Stephanus und das Gespräch mit der Freundin und Kollegin. Wer hätte das gedacht.

Der Kampf verliert seinen Reiz

Leider kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich seitdem noch einmal so großzügig verziehen habe. Das mag daran liegen, dass mir auf Unverschämtheiten meistens eine Antwort einfällt. Es kann aber auch sein, dass mir Konter nicht mehr so wichtig sind und ich solche Situationen schneller vergesse. Schließlich war der Frieden in meinem Herzen so viel angenehmer als der wochenlange Kampf um eine passende Antwort und mit der Zeit bekommt man Übung.

verständnis für die andere Seite

Ich habe auch noch einmal über die Frau nachgedacht: Sie war einiges jünger als ich, hatte es aber schwer, mit ihrem Koffer, mit ihrem Gewicht, vielleicht war der Aufzug im Bahnhof belegt. Womöglich hatte sie es eilig und gerade mit Mühe und Not die Treppen bewältigt. Und dann kommt da Eine und fährt einfach Fahrrad im Bahnhof, balanciert! Ich kann mir gut vorstellen, dass das auch in mir Aggressionen auslösen könnte – die mit der Radfahrerin eigentlich nichts zu tun haben, sie wäre nur ein Ventil für meinen Frust.

Die Grenze

Ob ich mir allerdings zukünftig solche Fahrten verkneife, das glaube ich nicht. Ihre Lust am Leben wird nicht größer, wenn ich auf meine Lust am Leben und am Radfahren verzichte.

© Susanne Böhling, 2021

Messer im atelier extra 3

Als stolze Besitzerin eines Messers aus Bernhard Schedalkes 
Werkstatt freue mich auf eine Ausstellung seiner Kunst am
Wochenende in Oedt
Messer mit der Magie von Kultgegenständen aus der Werkstatt von Bernhard Schedalke
Auf einem Weihnachtsmarkt bin ich über die Messer
von Bernhard Schedalke gespolpert und konnte anschließend,
im Januar 2012 eine Geschichte über ihn machen.

Hier ein Auszug aus dem Zeitungsartikel

Gelegenheit macht Messer

Es war die Gelegenheit, die Bernhard Schedalke zum Messermachen brachte. Im früheren Betrieb des gelernten Werkzeugmachers machten sich die Mitarbeiter aus den abgebrochenen Maschinensägeblättern Teppichmesser. „Die meisten haben nur die Spitze geschliffen. Meine sahen damals schon anders aus”, sagt der Mann, der es bis heute ablehnt, Dinge nur nach ihrem Zweck zu beurteilen und Schönheit zu einem ebenbürtigem Kriterium erhebt. Wobei die Schneidfähigkeit nie verloren geht. Stets trägt er ein kleines Taschenmesser aus seiner Produktion bei sich. „Da kann ich mir im Steakhaus schon mal selbst helfen, wenn die Messer dort stumpf sind.“

Teures Material und geduldige Handarbeit

Irgendwann kaufte er sich Stahl für zwei Messer. „Der kostete damals neun bis zehn Mark pro Zentimeter”, sagt er über den Materialaufwand. Als Werkstatt diente ihm eine Ecke in der Küche der Familie. Dort stand das erste Schleifrad, mit dem er den vier Millimeter dicken Stahlbändern maschinell einen Hohlschliff verpasste. Der Rest war großenteils Handarbeit. Mit feinen Feilen löste er die gewünschte Form aus dem Stahl.

handwerkliche und ästhetische Qualität

Doch bereits die ersten Teile zeichnete eine hohe handwerkliche und ästhetische Qualität aus. „Auf der ersten Ausstellung 1984 traf ich direkt meinen ersten Sammler“, erinnert er sich. Der bot ihm einen Betrag, der Schedalkes Vorstellungsvermögen zunächst übertraf und machte ihn mit den in der Szene üblichen Preisen bekannt. Der St. Töniser etablierte sich schnell, Fachzeitschriften, auch in Norwegen und Frankreich würdigten bald seine Kunst.

„Was ich eingenommen habe, habe ich in teure Materialien investiert“, erzählt er über seine Entwicklung. Schwarzes Ebenholz, Grenadill, verwendet er genauso wie Elfenbein, 10000 Jahre alte Mammutzähne oder Tierknochen. „Der Mammutzahn kostete eine D-Mark pro Gramm, die Tierknochen finden wir zufällig“, sagt er. So hat er aus den Stahlresten aus der Herstellung eines großen Messers und einem Mäusezahn als Griff ein Minimesser gemacht, das sich Messebesucher an seinem Stand mit der Lupe ansehen können.

Das erste messer war direkt ein voller erfolg

Das Messer, das er seinem ersten Sammler verkaufte, hat er nach dessen Tod wieder zurück bekommen. Eine breite Schneide, ein Griff aus Grenadill, darin eingelassen Perlmutt und Silber, von antiker Strenge und Schönheit.

So stellt man sich das Messer vor, mit dem Julius Cäsar ermordet wurde.

Heute ist es unverkäuflich. „Wenn ich nicht Messermacher wäre, wäre ich sicherlich Sammler“, sagt er über die Faszination, die die an sich schlichten Schneidwerkzeuge auf ihn ausüben, denen er die Magie von Kultgegenständen verleiht.

Diesmal mit in der Ausstellung D i e t e r   K a m i n s k i, Shrimshaw- Künstler

Angenehm – Volker Kutscher

Bei seiner Lesung in Duisburg gewährt der Autor, der mit seinem Kriminalroman “Nasser Fisch” Die Vorlage für die Erfolgsserie „Babylon Berlin“ lieferte, Einblicke in seinen Arbeitsprozess und offenbart seine politische Motivation: für Demokratie, Rechtsstaat und Menschlichkeit.

Lesung beim Verein für Literatur Duisburg

Das Foyer der Duisburger Zentralbibliothek ist voll besetzt, als Volker Kutscher aus dem siebten Fall der Serie um den aus Köln stammenden Kommissar Gereon Rath liest. In dem steht Marlow im Mittelpunkt, der König der Berliner Unterwelt, im Film genannt „der Armenier“ und die Zuhörer, die sich bisher nur an die filmische Umsetzung gehalten haben, erfahren: Gereon und Charly – wie Lotte in den Büchern heißt – kriegen sich! Im Jahr 1935 heißt sie nicht mehr „Ritter“, sondern „Rath“. Wer der Mörder ist, verrät Kutscher natürlich nicht. Aber das kann man ja nachlesen – wäre schade, wenn die Spannung weg wäre.

Volker Kutscher zu Gast beim Verein für Literatur Duisburg in der Zentralbibliothek.

Volker Kutscher erzählt, wie seine Geschichten wachsen 

Was man nur hier erfährt: Wenn Kutscher von seinen Hauptfiguren erzählt, dann klingt das fast, als rede er von Verwandten, wenn nicht sogar von Kindern. „Was Gereon da tut, das finde ich nicht so gut“, sagt er beispielsweise darüber, wie Rath bei der Auffahrt Adolf Hitlers zum Reichparteitag in Nürnberg grüßt. „Manchmal machen sich die Figuren selbstständig“,sagt er später. Oder sie protestieren, wenn er etwas geschrieben hat, was nicht stimmig ist. „Das muss ich dann ernst nehmen. Selbst wenn ich dann die letzten 30 Seiten umsonst geschrieben habe.“ Bei einem Pensum von fünf Seiten täglich entspricht das der Arbeit einer Woche. Seine Bücher seien nicht wie Häuser, die man entwirft und plant bis ins letzte Detail, sondern eher wie ein Baum, der langsam wächst und bisweilen sogar den Autor überrascht.

Volker Kutscher erzählt bei der Lesung auch über seine Arbeitsweise und die Arbeit an Babylon Berlin

Babylon Berlin sichert das Interesse amerikanischer Verlage

Nach der filmischen Umsetzung zu Babylon Berlin wird er gefragt, die doch sowenig Ähnlichkeit mit der Buchvorlage habe: „Ich kann den Drehbuchautoren und Regisseuren Tom Tykwer, Achimvon Borries und Hendrik Handloegten vertrauen, deswegen haben sie alle Freiheit, die sie brauchen“, sagt er angenehm unprätentiös. „Filme machen ist doch etwas ganz anderes, als Bücher zu schreiben.“ Wichtig sei ihm lediglich gewesen, dass sie „aus der Zeit heraus erzählen, genau wie das Buch“, sprich: dass die handelnden Personen nicht wissen können, wohin das alles führt. Mit dem Ergebnis ist er sehr zufrieden. Dass amerikanische Verlage jetzt Interesse an den – bereits übersetzten und in England verlegten Büchern – haben, freut ihn außerdem.

Zwei Jahre Arbeit für ein Jahr der Zwischenkriegszeit

Woran er bei allen Unwägbarkeiten festhalten wird: Alle zwei Jahre wird ein neuer Gereon-Rath-Krimi erscheinen. „Schneller kann ich nicht arbeiten,“ sagt er und spricht auf Nachfrage auch von den Mühen des Schreibens, von den Zweifeln, die der „innere Lektor“ sät, um den Schaffensprozess zu bremsen. „Schreiben ist nicht nur schön, sondern auch anstrengend. Die Muse kommt nicht vorbei.“ In einen Flow, in dem die Figuren ihr Eigenleben entwickeln, komme er meist erst, wenn er sich zuvor durch die Seiten gequält habe.

Krimis für Demokratie und Menschlichkeit

Volker Kutsch signiert nach der Lesung am Tisch der Buchhandlung Scheuermann Bücher

Jeder Band behandelt ein Jahr der Zwischenkriegszeit. Begonnen mit 1929 kommt in zwei Jahren der Krimi zu 1936, dem Jahr der Olympiade. Eigentlich hatte er vor, damit aufzuhören. “Aber das wäre irgendwie doof“, sagt er und stellt in Aussicht, bis 1938 weiter zu machen. „Dann ist aber wirklich Schluss. Krieg will ich nicht erzählen.“ Sein Anliegen sei es, von den barbarischen Ereignissen zu erzählen, die in die Zivilisation eingebrochen sind. „Wenn man sich überlegt, die Reichspogromnacht! Vorne brannten die Laternen der Martinszüge, hinten die Synagogen“, zeigt er sich heute noch entsetzt. „Ich will erzählen, wie es dazu gekommen ist.“ Dass er damit auch verhindern will, dass es wieder so kommt, braucht er nicht zu sagen. Es steht greifbar im Raum und er erntet lang andauernden Applaus.