Wie kann man nur!


Ja, der Aufschrei „Wie kann man nur!“ ist lange Zeit auch aus meinem Mund gekommen. Wie aus so vielen anderen. Und auch heute kann ich mich nicht immer beherrschen.

Es gibt immer einen Grund auf andere herabzusehen

Zunächst mal: „Wie kann man nur!“ ist ein Aufschrei. Das „Wie“ ist Tarnung. So tun als ob es eine Frage wäre. Ist es aber nicht. Keiner von uns „Wie kann man nur“-Schreiern hat jemals wirklich gefragt. Eigentlich wollen wir damit sagen, dass der, dem dieser Ausruf gilt, selten doof ist. Im Gegensatz zu mir, die ich schlau, vernünftig, einsichtig, diszipliniert und in der Lage bin, mich anständig zu benehmen.

Peinlich und zum Lachen

Aber dann ist mir im vergangenen Jahr etwas sehr Peinliches passiert: Ich bin mit dem Fuß umgeknickt und hatte eine Bänderdehnung im Sprunggelenk. In wenigen Sekunden schwoll der Knöchel an und es hat höllisch weh getan. Das ist ja jetzt eigentlich nicht peinlich. Sondern bedauernswert. Aber: Wie mir das passiert ist! „Wie kann man nur! So blöd sein!“

Dann habe ich einer Freundin erzählt, wie es passiert ist. Eigentlich, um sie aufzuheitern, weil es ist ja schon auch lustig, wenn man so lange am Klo mit dem Handy Sudoku spielt, bis einem die Beine derart eingeschlafen sind, dass sie beim Aufstehen komplett versagen und ich von Glück reden kann, dass mein Bad so groß ist, dass ich mich nicht schlimmer verletzt habe. Vor allem, weil es da niemanden gibt, vor dem ich mich aufs Örtchen zurückziehen müsste, um meine Ruhe zu haben. „Warum spielst Du nicht auf dem Sofa?“ wäre eine denkbare Reaktion gewesen. Und dann? Sie hat nicht gelacht. Sie hat nur die Schultern gezuckt und gesagt: „Ist mir auch schon passiert.“ Da war ich baff. Ich begann zu ahnen, dass solche Missgeschicke nicht nur mir passieren.

Die Badezimmerdecke von unten – als ich am Boden lag und Gott-Lob nicht ganz zerstört war

Wer seine Fehler zugibt provoziert Verachtung

Inzwischen bin ich sicher: Jeder hat schon mal etwas gemacht, das den Aufschrei „Wie kann man nur!“ provoziert, nur outet man sich selten. Weil man „Wie kann man nur“ nicht hören will. Wenn Du noch nie zu lange Sudoku gespielt hast auf dem Klo, dann hast Du irgendetwas anderes gemacht, das peinlich ist. In den falschen Klamotten ins Theater gegangen, den Ketchup auf Revers der Jacke gekleckert vor dem Business-Essen mit wichtigen Kunden, die Espressokanne ohne Wasser auf die Herdplatte gestellt – meine letzte Heldentat – jetzt ist sie kaputt. Das Portemonnaie beim Tanken aufs Autodach gelegt und dann losgefahren ohne es einzustecken – das war ich nicht, ich habe es mal im Zug vergessen.

Nur scheinbar unkaputtbar. Ich kriege alles hin

Es gibt mehr als einen Blickwinkel

Oder Du hast eine Ansicht, von der Du felsenfest überzeugt bist: Der eine brüllt „Wie kann man nur“ wenn ein anderer Leder trägt: „Die armen Tiere!“ Der andere brüllt „Wie kann man nur!“ wenn man statt Leder Plastik trägt, denn wie bitte, wird das schlussendlich entsorgt? Wieder in Malaysia? „Wie kann man nur!“ … Fleisch/Milch zu sich nehmen – sagen die Veganer. Anhänger der Ökobewegung denken eher in Kreisläufen und haben die Menge und die Produktionsbedingungen im Auge. Sie sagen: „Wie kann man nur“, wenn jemand darauf verzichtet. Und so hat man ständig etwas, worüber man mit „Wie kann man nur!“ verächtlich die Augen verdrehen kann.

Und es gibt Gründe, die man sich selbst nicht eingesteht

Ich habe in meinem Bekanntenkreis Menschen, die Corona-Regeln in Frage stellen und solche, die sich tierisch aufregen über die, die sie in Frage stellen. Jeder ruft dem anderen entgegen „Wie kann man nur!“ Und will damit sagen, dass der andere selten dämlich ist. Aber er fragt nicht: „Wieso? – Wieso vertrittst Du diese Meinung?“ Da ich alle diese Menschen gern mag und weiß, dass sie keine Monster sind (auch wenn sie sich auf Facebook schon mal aggressiv äußern oder einen mit ihrer Traurigkeit bis in die Tiefen des Marianengraben (11035 Meter) ziehen, habe ich mal gefragt. Und dann kamen Argumente. Die ich nicht nachvollziehen wollte. Oder konnte. Und die auch keinen Ausweg bieten. Was ich bei diesen Gelegenheiten aber gespürt habe: Alle haben Angst! Fürchterliche Angst! Und das ist verständlich. Und sie fühlen sich allein gelassen. Und ohnmächtig.

Eine Weisheit aus meinem Poesiealbum von meinem lieben Onkel Erwin

Deswegen sind sie aggressiv. Oder traurig. So traurig, dass in ihrem Leben keine Sonne mehr scheint. Beides macht das Zusammensein mit ihnen nicht gerade erquicklich. Womöglich werden sie isoliert bleiben, wenn die Krise vorbei ist.

Und davor habe ich Angst. Fürchterliche Angst. (Nicht auszudenken, wenn sie sich bei mir zufällig begegnen). Aber ich kann nicht brüllen „Wie kann man nur“, weil ich zufällig weiß, wie schnell das geht. Und selbst nicht davor gefeit bin. Ich sage „Wie kann man nur!“ bei unerzogenen Hunden und unerzogenen Kindern. Da bin ich nämlich der Ansicht, ich hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen. Aber bitte frag nicht bei meinen Kindern nach, wie sie über ihre Erziehung denken.

Immerhin hatte ich mit der Bänderdehnung sehr viel Zeit Sodoku zu spielen. Auf dem Sofa.