Das Quellgebiet des Lechs muss warten
Eigentlich hatte Bergführer Rolf das Quartier in Wald am Arlberg gewählt, weil er diese Region noch nicht so gut kannte. Besonders reizte ihn der Formarinsee oberhalb von Dalaas. Mir ging es ebenso. Schließlich gilt diese Region als Quellgebiet des Lechs und an dem wiederum, weiter unten, liegt Augsburg, eine meiner Heimatstädte, in der ich meine gesamte Schulzeit gewohnt habe. Allerdings sollte der von Rolf gewählte Weg über 1200 Höhenmeter gehen. Dass diese Anforderung für mich ein bisschen zu viel sein würde, spürte ich bald und auch er sah es ein.
Der Litznersattel hat mich schon 2015 gereizt
“Okay, wir machen statt dessen den Litznersattel”, entschied er. Mein Herz machte einen Sprung. Denn diesen Litznersattel, den hatte ich im Jahr zuvor das erste Mal wahrgenommen, als ich mit Heinz im Montafon war. Von der Bielerhöhe aus waren wir zur Saarbrücker Hütte gewandert, die er noch aus seiner Jugendzeit kannte. Auf dem Weg dorthin beobachteten wir Wanderer, die über den Litznersattel herunterkamen und es hätte mich schon interessiert, wie es dort weitergegangen wäre. Aber wir hatten weder die richtige Ausrüstung noch die entsprechende Kondition. Ich trug Halbschuhe und was ich über meine Schulter geworfen hatte, war eher Rückentüte als Rucksack. Darin hätten wir nicht mal genügend Wasser transportieren können, geschweige denn etwas zur Stärkung – noch wärmere Sachen. Damals, im heißen Juli 2015, war es dort oben ganz schön kalt gewesen und meine rote Jacke war das erste Mal zum Einsatz gekommen.
Besondere Anforderungen
Dass auch der Litznersattel kein Zuckerschlecken für mich werden würde, war allerdings auch klar: 955 Höhenmeter jeweils hinauf und hinunter, sowie fast 14 Kilometer Länge waren mehr als alles, was ich in den Tagen zuvor geleistet hatte. Dazu kam eine Anfahrt von 61 Kilometer, mit zeitraubenden Serpentinen über die Silvretta Hochalpenstraße. Also brachen wir früher als sonst auf und waren bereits um 9.30 Uhr am Parkplatz beim Silvrettastausee an der Bielerhöhe.
Entlang des Klosterbachs
Den ersten Teil des Wegs, an der Südseite des Sees entlang, kannte ich ja schon.
Er führt auch zur Wiesbadener Hütte, die ich 2015, ebenfalls mit Heinz zusammen, besucht hatte. Erst hinter dem See gabeln sich die Wege. Geradeaus geht es weiter zur Wiesbadener Hütte, wir gingen diesmal rechts, Richtung Litznersattel. Der Weg entlang des Klosterbachs stieg recht gemächlich an.
Erst am Ende des Tals musste man den Bach überqueren.
Von nun an ging’s bergauf. Und zwar ziemlich steil.
Die Spitze des Wegweisers ist blau
Die auf den Wegweisern in den österreichischen Alpen angegebenen Zeiten gelten nicht für mich. Aber das Beschilderungssystem gibt auch ungefähr Auskunft über den Schwierigkeitsgrad der Wege:
- Ist die Spitze des Wegweisers gelb, handelt es sich um einen zumindest mit Schotter befestigten Weg mit geländebedingten Steigungen. Die Schrittlänge kann man selbst wählen und so das Tempo der Kondition anpassen. Pumps sollte man nicht tragen, aber flaches Schuhwerk mit gutem Sitz am Fuß reichen aus.
- Rot beschilderte Wege stellen höhere Anforderungen. Es handelt sich teilweise um schmale Pfade, man muss über Wurzelwerk oder Geröll oder über Bäche gehen.
- Blau beschilderte Wege stellen “alpine” Anforderungen.
Kindheit mit Höhenangst
So wurde unterhalb des steilen Hanges darauf hingewiesen, dass der Weg einiges an Übung erfordere. Außerdem sollte man festes Schuhwerk tragen und schwindelfrei sein. Ich seufzte, bin ich doch von klein auf von Höhenangst geplagt. Ich erinnere mich gut, wie ich mich bei einem Besuch der Familie auf Schloss Neuschwanstein weigern wollte, über die Brücke zu gehen. Die, über die tiefe Schlucht. Wobei das Bauwerk wirklich nicht so aussah, als ob es gleich einstürzen würde. Nein, es wirkte wirklich sehr solide. Trotzdem habe ich ziemlich rumgeschrien und geheult.
Am Ende des Klosterbachtals kam uns ein Paar entgegen, die Frau war ganz aufgeregt: “Wir haben abgebrochen und sind umgedreht. Es war mir einfach zu steil!” Ich atmete durch und erwiderte nichts. Dann machten wir Rast und stärkten uns für den nächsten, steilsten Abschnitt. Rolf sah meinen zweifelnden Blick und sagte: “Du schaffst das!” Damit drehte er sich um und schritt voran.
In meinem Tempo, beständig, aber ohne Hetze werde ich das Ziel erreichen
Bedächtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt. Bereits nach der 1. Tour, hinauf zur Kaltenberghütte, hatte mir Christof Bitschnau, der Vermieter der Ferienwohnung eine wichtige Weisheit mit auf die weiteren Wege gegeben. “Du musst Dein Tempo gehen”, sagte er mit Hinblick auf den Alters- und den Leistungsunterschied zwischen Rolf und mir. “Sonst bist Du tot!” Das hatte ich beherzigt und kannte inzwischen ganz genau die Herzfrequenz, mit der ich mich über mehrere Stunden fortbewegen konnte. Heute, hinauf zum Litznersattel war mir das schon selbstverständlich. Ich freute mich über jeden Meter, den ich an Höhe gewann.
Vorbereitung beim Bouldern und in der Kletterhalle
Erfreut merkte ich, dass ich mit der steilen Stelle ziemlich gut zurecht kam. Vielleicht lag das ja daran, dass ich im Winter ein paar Mal in Düsseldorf bouldern (im Monkeyspot) und klettern (im Klettermassiv) war. Dabei hatte ich senkrechte Wände erlebt und bewältigt und mich anscheinend ein bisschen daran gewöhnt. Außerdem hatte ich geübt, wie sich ein fester Halt anfühlt, von dem aus man den nächsten sicheren Schritt machen kann. So blieb ich ruhig und fühlte mich wunderbar sicher.
Wenn mir schwindelig wurde, machte ich eine Pause. Rolf fischte dann aus dem Seitenfach meines Rucksacks meine Trinkflasche. Damit ersparte er mir, den Rucksack in dem unwegsamen Gelände abzusetzen, was Zeit und Kraft gekostet hätte. Nach ein paar Schluck war alles wieder in Ordnung und es konnte weiter gehen.
Sicher über die Geröllfelder
Stolz und glücklich erreichte ich den ersten Kamm – und sah, dass ich noch keinesfalls auf dem Sattel war, sondern noch mindestens ein weiterer überwunden werden musste. Allerdings war der Weg dorthin nicht mehr so steil. Dafür ging er über ein Geröllfeld mit richtig großen, schroffen Steinen, die kreuz und quer herumlagen. Dabei kamen mir meine guten neuen Schuhe zugute. Sie haben eine steife Sohle, so dass man auch auf die Grate der Steine treten kann, ohne sie am Fuß zu spüren. Sie haften auch auf schrägen Flächen.
Die Teleskopstöcke halfen mir die Balance zu halten. Außerdem konnte ich testen, ob die Steine kipplig waren, bevor ich darauf trat. Zugute kam mir auch mein intensives Tanztraining. Auch dabei geht es um Balance und Zentrierung. Bisweilen fehlen uns Markierungen, die den einfachsten Weg anzeigen. Die dicken roten Striche auf den Steinen muss man teilweise suchen, ihr Abstand zueinander ist erheblich. “Rolf, ich glaube, hier war im Vorjahr noch mehr Schnee. Dann gab es noch kaum Gelegenheit, den Weg zu markieren”, gebe ich zu bedenken.
Geschafft: Oben auf dem Litznersattel
Oben auf dem Sattel sieht man sofort die Saarbrücker Hütte. Ich finde sie wunderschön. So klein wie sie erschien wurde uns auf einen Schlag deutlich, dass sie noch ganz schön weit weg war.
Wo ist der Schnee vom vorigen Jahr?
Natürlich bin ich mir nicht 100-prozentig sicher, aber ich glaube, hier war im Juli 2015 wesentlich mehr Schnee als jetzt. Aber war das nicht “ewiges Eis”, Gletscher? Inzwischen haben sich die Gletscher zurück gezogen. Ich erinnere mich an das Vorjahr, meine, die Wanderer seien vom Litznersattel über das Schneefeld Richtung Saarbrücker Hütte und Vermuntstausee gegangen. Wir hingegen laufen über Geröllfelder.
Inzwischen konnte ich natürlich die alten Fotos rauskramen:
Man erkennt die unzureichende Ausrüstung. Auf dem nächsten Bild mit dem Wegweiser zum Litznersattel erkennt man deutlich den resignierten Gesichtsausdruck: “Das ist nichts für uns”, sagt er auch ohne Worte.
Im Jahr 2016 habe ich unter diesem Schild den Litznersattel bereits überwunden. Aber ich vermisse den Schnee. Auf eine Einkehr in der Saarbrücker Hütte verzichten wir, es kämen weitere 100 Höhenmeter hinauf und hinunter dazu. Das muss nicht sein.
Der Weg von hieraus zurück zur Bielerhöhe ist mir noch aus dem Vorjahr geläufig. Er zieht sich. Um 18 Uhr sind wir am Ziel. Womit wir die angegebene Zeit von 7 Stunden 15 Minuten nur um 45 Minuten überschreiten. Damit bin ich sehr zufrieden.